Montag, 19. Juni 2017

Schwarz und Weiß

Luzi Renner-Motz und Aïsha Mia Lethen im Gespräch über die Thematik von “Die taube Zeitmaschine” von Michaela Caspar / Possible World im Ballhaus Ost. Von Lagerbildung und Zusammenführung, Stereotypen und moralischen Fragen.

Die taube Zeitmaschine
© Max Neu
[10:41]
Aïsha: Luzi, der gestrige Abend im Ballhaus Ost hat mich ein bisschen an “mixed_me” erinnert – in seiner sehr aufklärenden Art. Wie ging es dir damit?

[10:47]
Luzi: Ähnlich. Der Abend erzählt von wichtigen historischen Ereignissen im Zusammenhang mit Hörbehinderungen, vor allem in Bezug auf Rechte und Selbstbestimmung schwerhöriger und tauber Menschen. Dabei ging es viel um Inhalt und Fakten, die in einen Theaterrahmen eingepasst wurden. Ich habe mich am meisten gefreut über die Szenen, in denen die Personen auf der Bühne über heutige und scheinbar eigene Erfahrungen gesprochen haben. Zum Beispiel, als die Geschichte in Gebärdensprache erzählt wurde. Ein Performer hat eine Situation beschrieben, in der er im Park auf einer Bank saß und für eine vorbeilaufende Frau eine Blume gepflückt hat. Das wurde erst alles für Personen, die keine Gebärdensprache sprechen, erklärt und dann nochmal einfach so erzählt.

[10:50]
Aïsha: Generell hatte ich auch das Gefühl, dass sich diese Performance eher an ein hörendes Publikum richtet. Das fand ich schade. Mit der von dir erwähnten Geschichte hatte ich Probleme: Die Geschichte war sehr sexistisch und hat auf Stereotype gebaut. 

[10:54]
Luzi: Darüber habe ich auch nachgedacht. Ich glaube, Gebärdensprache hat an dieser Stelle eine stereotype Vorstellung visualisiert. Natürlich besteht das Problem in der Lautsprache gleichermaßen: Assoziationen, die mensch mit Begriffen wie Frau hat, schwingen mit, sobald das Wort gesagt oder gehört wird. Da wird das nur eben nicht immer so deutlich.

[10:59]
Aïsha: Und da setzt für mich die Frage ein: Muss das so reproduziert werden? Ich finde es aber auch schwer aus meiner Position heraus darüber zu sprechen und möchte nicht urteilen. So oder so ist es eine sehr bewusste Entscheidung, eine solche Geschichte für diese Szene zu wählen, die genau damit arbeitet. The danger of the single story… 

[11:06]
Luzi: Absolut. Die Vorstellung von Geschlechtern ist eben gesamtgesellschaftlich so präsent, dass sich da leicht drauf eingehen lässt. Diese “weibliche” Körperform wird sofort verstanden… Das macht die Wahl des Themas natürlich nicht weniger hinterfragbar. Auch im Kostümbild habe ich mich an der Binarität der geschlechtsspezifischen Kleidungswahl gestört.

[11:11]
Aïsha: Ja, die war sehr auffällig. Es waren zwar alle in schwarz-weiß gekleidet, aber eben stereotyp und binär: Vermeintlich weibliche Oberteile mit Reißverschluss und Hemden bzw. schlichte T-Shirts. Auch die Rollenverteilung, wer wie viel gesagt hat, war nicht besonders gleichberechtigt.

[11:15]
Die taube Zeitmaschine
© Lisa Wischmann
Luzi: Die Bühne war auch schwarzweiß, der Bühnenboden übersät mit Markierungen, Linien und Buchstaben, denen die Performer in ihren Bewegungen häufig gefolgt sind. Nur die Szenen einer Livekamera, die auf die hintere Bühnenwand projiziert wurden, waren farbig und erinnerten an ein Zuhause.

[11:21]
Aïsha: Überhaupt war der Abend ja aus Episoden, bzw. Kapiteln zusammengesetzt: Sprechen, Gebärden, Verfolgung. Die Frage, ob ein vier Monate altes Baby ein Cochlea-Implantat (CI) bekommen soll, ist aus einer Geschichte heraus entstanden, die szenisch eingeflochten wurde: Eine werdende Mutter kommt mit dem Gedanken nicht klar, ein gehörloses Kind zur Welt zu bringen. Anders als der schwerhörige Vater möchte sie dem Kind kurz nach der Geburt ein CI einsetzen lassen. Verschiedene Stimmen äußern sich dazu, auch endet die Vorstellung mit dieser offenen Frage. Ich muss dich wohl kaum fragen, was du darüber denkst? 

[11:27]
Luzi: Es gab ja diese Szene, in der die ganze Situation umgekehrt durchgespielt wurde: Taube Eltern bekommen ein hörendes Kind und nehmen ihm mit einer Operation den Hörsinn. Das hat auf den Punkt gebracht, wie durch die CI-Operation nicht nur Taubsein stigmatisiert, sondern auch die Agency der Kinder missachtet wird.

[11:30]
Aïsha: Was ich daran mochte war, dass mit dieser CI-Thematik die Situation heute im Fokus stand. Ansonsten war der Abend ja sehr geschichtslastig. Hat dich das gestört?

[11:36]
Luzi: Ich bin kein großer Fan von dokumentarischem Theater. Das steht automatisch vor so vielen dramaturgischen und ideellen Fragen, dass ich mich beim Schauen oft frage, ob denn Theater wirklich das geeignete Medium dafür ist. Reproduktion ist zum Beispiel so ein Thema – wenn auf der Bühne menschenunwürdige Verfahren der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte nachgestellt werden, gibt mir das einfach nichts. Da brauche ich keine Spielsituation, die mir das emotional verdeutlicht und der sich die Personen auf der Bühne in dem Moment aussetzen müssen. Trotzdem war der historische Abriss natürlich informativ und gehörte zum Thema, das sich die Gruppe ausgesucht hat. Hast du viele (dir) neue Gedanken gehört?

[11:41]
Aïsha: Nein. Ich war nur immer wieder erschrocken von den Videos, die eingespielt wurden und im Interview-Stil deren persönlichen Geschichten erzählt haben: Die Eltern eines gehörlosen Kindes, die heute mit einer solchen Distanz über Gehörlosigkeit gesprochen haben, die Gehörlosigkeit als abnormal bezeichnet haben – das war furchtbar zu sehen. Von der Geschichte wusste ich schon relativ viel. Die verschiedenen Positionen, die vertreten wurden, fand ich insofern schwierig, als dass ich wieder das Gefühl hatte, das Publikum sitzt in der Position, aufgeklärt werden zu müssen. Irgendwie hatte ich zeitweise das Gefühl, dass die Inszenierung zwei Lager geschaffen hat, Gehörlose und Hörende. Das begann schon mit der Vorstellung der Darsteller_innen über Kinderbilder, die sie nur auf die eine Charakteristik ihres Seins beschränkt haben: hörend, schwerhörig, taub, CI. Weißt du, was ich meine?

[11:45]
Luzi: Ja, darüber habe ich mich auch gewundert. Diese Unterteilung der Performer_innen stand schon sehr im Vordergrund. Ähnlich wie die Meinungsverteilung zwischen CI-Befürworter_innen und -Gegner_innen. Dabei gab es wenige Szenen, die subtil genug waren, um für sich zu sprechen. Die meiste Zeit ging es darum, klar abgegrenzte Argumente zu präsentieren, die an Individuen geknüpft waren.

[11:47]
Aïsha: Verrückterweise hatte ich erst beim Schlussapplaus das Gefühl, dass sich etwas verbunden hat, als alle Menschen im Publikum die Hände gehoben und auf Gebärdensprache geklatscht haben. 

[11:50]
Luzi: Das war überhaupt ein schöner Moment, wie das Publikum nach fünf Tagen Festival und aus völlig unüberlegter Theatergewohnheit heraus angefangen hat, laut zu applaudieren und dann sofort umgeschaltet hat, und zum Gebärdensprach-Applaus übergegangen ist.

Wie schon in mixed_me wünschen wir uns einen Umgang mit der Thematik, der auch jenseits des explizit inklusiven Theaters funktioniert. Eben eher zusammenführend als lagerbildend. Und wissen gleichzeitig wieder, dass solche Abende (noch) nötig sind, um Sichtbarkeit zu schaffen und Diskurse zu öffnen.