Montag, 12. Juni 2017

„Kunst kann nie Realpolitik sein“

Felix Meyer-Christian macht mit seiner costa compagnie Recherchetheater. Am Mittwoch läuft „CONVERSION / Nach Afghanistan“ zum letzten Mal im Ballhaus Ost. Ein Porträt.

Der Körper des Tänzers hebt sich immer wieder in die Luft, fällt klatschend zu Boden, reißt sich wieder hoch, fällt erneut. Wie ein Fisch, der sich an Land orientierungslos umherwirft, immer im Kreis. Auf die hintere Bühnenwand ist die afghanische Wüste projiziert. Bunte Luftballons liegen herum und geben der beklemmenden Atmosphäre einen abstrakten Ton. Bis auf das Aufschlagen des Körpers ist nichts zu hören.

CONVERSION / Nach Afghanistan
© Stefan Haehnel


Ein verwirrendes und bedrückendes Bild aus dem Stück „CONVERSION / Nach Afghanistan“. Nach einer langen Tour durch Deutschland und die USA wird es am Mittwoch im Ballhaus Ost das letzte Mal gezeigt. Geschaffen hat es Felix Meyer-Christian mit KünstlerInnen der costa compagnie. Mit Teilen seiner Gruppe reiste er dreieinhalb Wochen durch Afghanistan, um das Material dafür zu sammeln. Sie haben mit Afghaninnen und Afghanen gesprochen, SoldatInnen, DiplomatInnen, WissenschaftlerInnen befragt. Auf der Bühne entsteht daraus eine Mischung aus Tanz, Performance und Sprechtheater. Eine Ansammlung von ästhetischen und politischen Perspektiven. Wie durch ein Kaleidoskop wird die Situation zerlegt, gespiegelt, umgeworfen.

Ursprünglich wollte Meyer-Christian zur Entwicklungszusammenarbeit. Katastrophenvorsorge. Er studierte Geographie und Völkerrecht in Berlin. Geographie war schon immer sein Ding. Er hat viele Auslandspraktika gemacht, interessiert sich für die globalen Zusammenhänge, ist kritisch, engagiert. Theater war da zunächst nur eine private Leidenschaft: Meyer-Christian spielte neben dem Studium und hospitierte an der Schaubühne.

Nach dem Studium steht er vor der Entscheidung: Soll er eine vielversprechende Stelle in Guatemala annehmen oder das Regiestudium in Hamburg? Zusagen hat er für beides. Entschieden hat er sich für Hamburg, für die Kunst und gegen die Realpolitik: „Kunst wird nie Realpolitik sein“. Wer konkret die Politik mitbestimmen will, meint Meyer-Christian, der muss schon selbst in die Politik gehen oder parallel zur künstlerischen Praxis AktivistIn werden. Die Kunst habe andere Möglichkeiten Einfluss zu nehmen, aber „die meisten politischen Entwicklungen entscheiden sich innerhalb unserer Kontexte nicht im Theatersaal“.

Felix Meyer-Christian
Trotzdem ist er Künstler geworden. Wieso? Die Kunst setzt woanders an. Er möchte die großen Prozesse beschreiben, das kleine Guckloch unserer Wahrnehmung aufreißen und das Bild so komplex wie möglich machen. Denn das ist die große Stärke der Kunst, ästhetische Formen finden, um Blickwinkel zu erweitern, Wahrheiten Raum geben, um die Gesellschaft in ihrem eigenen Selbstverständnis zu stören. Das hat die Kunst der Politik voraus. 

Noch während des Studiums gründet Meyer-Christian die costa compagnie, um gemeinsam mit KünstlerInnen verschiedenster Bereiche zusammenzuarbeiten: Tanz, Installation, Bildende Kunst, Sprechtheater. Er will einen möglichst vielseitigen Blick aus allen Richtungen auf das Material werfen. An fast jedem Projekt arbeiten neben dem festen Kern der costa compagnie deshalb auch externe KünstlerInnen mit. Bloß nicht in bekannten Konstellationen einrosten. Dynamisch bleiben. Immer neue Zugänge zu Material und Ästhetik finden.

So entstehen Arbeiten, die immer dicht an der peniblen Recherche bleiben. Die costa compagnie abstrahiert ein Problem nicht. Keine Allgemeinplätze. Keine Allzwecklösungen. Stattdessen bekommen gesellschaftliche Situationen und die Menschen darin eine Bühne.

So wie in „CONVERSION / Nach Afghanistan“. Der Abend beschäftigt sich mit dem ISAF-Einsatz internationaler Truppen in Afghanistan. In unzähligen Interviews sammelt die costa compagnie Bruchstücke einer Gesamtsituation, die in ihrer Komplexität unbegreifbar scheint. Es sind Wahrheiten verschiedener Leben, die doch alle miteinander verstrickt sind. Jede Geschichte gibt einen anderen Blick auf das Geschehen frei. Da sind die SoldatInnen, die versichern, ihr Bestes getan zu haben. Die Deutschen, sehr professionell und distanziert, ohne Namen und Abzeichen. Die Amerikaner, viel offener, selbstbewusster und auch kritischer. Glühende AnhängerInnen der Taliban kommen genauso zu Wort wie junge Feministinnen, für die ein Abzug der SoldatInnen eine Katastrophe bedeutet.

Ihnen allen gibt die costa compagnie Raum und skizziert die Umrisse einer Lebenswelt, die uns Fremd erscheint und doch berührt. Unser westliches Wertesystem kommt an seine Grenzen, zerschellt an der schieren Unbegreiflichkeit der Lage. Wie kann ich eine solche Situation mit meinen Begriffen, meiner Ästhetik und meinen Werten zu begreifen versuchen? Muss ich nicht zwingend scheitern? Für Meyer-Christian liegt darin der Schlüssel seiner Kunst. Er will den Blick erweitern, ohne ihn einzufärben.

Fällt es ihm manchmal schwer, die Interviews mit den Beteiligten eines Konfliktes zu ertragen? Sicher. Aber es sei schließlich sein Beruf. Er muss jeder Stimme ihren Raum geben, das ist etwas Anderes, als in einer Kneipe privat über Meinungen zu streiten. Privatperson und Theatermacher sind bei Meyer-Christian in Interviewsituationen sauber getrennt: „Wir gehen ja als Gast zu den Leuten hin, um ihre Geschichten zu hören. Da kann man nicht plötzlich vorschnellen und einen Streit vom Zaun brechen.“

Ob er mit einem Interviewpartner übereinstimmt oder nicht, ist für ihn irrelevant. Er will keine Meinung machen, sondern die Komplexität der Lage übersetzen. Dazu gehört jede Stimme und ein Interviewer, der sich zurücknehmen kann. Das kann er. Ernst und engagiert erzählt er von den Menschen, die er kennengelernt hat, seinen Kollegen, dem Theater und der Politik – nicht von sich. Felix Meyer-Christian ist kein Moralist, sondern jemand, der gemerkt hat, dass moralische Vorstellungen keineswegs allgemeingültige Weltkonzepte sind. Was hier gilt, gilt nicht zwingend in Afghanistan.

Das nächste Stück handelt übrigens von der zunehmenden Faschistisierung des politischen Klimas. Trump, AfD und Co. Wieder wird die costa compagnie recherchieren, dicht am Material bleiben und gleichzeitig nach einer neuen choreographischen Form suchen. Denn unsere Realität ist viel zu komplex, um sie zu verallgemeinern.

von Talea Scholz