Sonntag, 18. Juni 2017

Häkelhosen im Biedermeierland

In der INTRODUCING-Reihe wurde die Bühne des HAU1 für zwei Produktionen zur Blackbox: Leien des Alltags ironisieren in “Mutti muss nach Lichtenberg” Begleiterscheinungen der Gentrifizierung, Enis Turan forscht nach “Beauty & the Beast” im eigenen Körper. Eine Skypekritik von Klaudia Lagozinski und Georg Kasch.


Beauty and the Beast
© Marcos Angeloni

[09:04, 18.6.2017]
Georg Kasch: Klaudia, warum bist Du gestern in "Mutti muss nach Lichtenberg" und "Beauty & the Beast" gegangen?    
            
[09:08, 18.6.2017]
Klaudia Lagozinski: Der Titel "Mutti muss nach Lichtenberg" klang gut, das Thema Gentrifizierung ist ja gerade hochaktuell und ich habe mir viele Lacher und Kritik an der Wohnsituation in Berlin erhofft. Bei "Beauty & the Beast" hat der Flyer relativ wenig verraten, das hat mich neugierig gemacht. Hast du oft lachen müssen bei "Mutti muss nach Lichtenberg"?
                  
[09:11, 18.6.2017]
Georg Kasch: Nö. Das war eher ein Schmunzeln hin und wieder. Mich hatten Titel und Thema auch angefixt, außerdem habe ich versucht, möglichst viel der INTRODUCING-Reihe anzuschauen, weil ich immer gucke, ob ich irgendwo junge Theatermacher*innen sehe, deren Arbeit es sich zu verfolgen lohnt. Und war dann etwas enttäuscht von diesem etwas spinnerten Biedermeier auf der Bühne.  
              
[09:20, 18.6.2017]
Klaudia Lagozinski: Mir ging es ähnlich. Ich finde, dass die Performance an vielen Stellen sehr langatmig war. Etwa die Szene, in der die Performer gefühlt 20 Mal die Smoothie-Zutaten wiederholten, Ingwer-Karotte-Orange ohne Apfel zum Beispiel. Da habe ich mich irgendwann gefragt, ob noch ne Pointe kommt. Leider kam keine. Was genau wollten die Spieler*innen deiner Meinung nach mit den Biedermeier-Hüten implizieren?  
             
[09:26, 18.6.2017]
Georg Kasch: Das bezieht sich auf das neue Biedermeier in Prenzlauer Berg, die neue Bürgerlichkeit, in der Leute in ihren Eigentumswohnungen sitzen und unter dem Banner des Lärmschutzes zunehmend alles rausekeln, weswegen sie mal hierhergezogen waren: Clubs, Bars, Institutionen wie das Theater o.N. Deshalb mochte ich diese Hut-Idee. Aber daraus wurden kaum szenische oder thematische Funken geschlagen. Ich hatte den Eindruck, dass die Leien des Alltags  alle Klischees vermeiden wollten, aber dadurch in eine Undeutlichkeitsfalle getappt sind – wenn man keine Aussagen trifft, sondern nur Andeutungen raunt oder reale Situationen bis zur Unkenntlichkeit um die Ecke denkt, muss man sich nicht wundern, wenn das Interesse der Zuschauer*innen erlahmt.    
          
[09:28, 18.6.2017]
Georg Kasch: Mir ging das zum Beispiel mit der Episode so, in der die Tochter zu den Eltern kommt und die sie nicht übernachten lassen wollen, ja sie Eintritt zahlen muss, damit sie die Wohnung anschauen darf mit all den historischen Schichten und Ablagerungen. Vermutlich ein Bild dafür, was der Kapitalismus mit den Menschen macht. Aber so spleening und schräg, dass man da nicht wirklich andockt. Der ganze Abend hatte ja was von einer aseptischen Märchenstunde ohne Zauber.  
              
[09:40, 18.6.2017]
Klaudia Lagozinski: Da gehe ich mit. Es muss ja nicht jedes Klischee bedient werden, aber die angedeuteten waren in der Tat ein wenig mager. In der Szene, in der eine Spielerin aus der gemeinsamen Wohngemeinschaft geschmissen wird, damit die anderen beiden mit einem neuen Projekt ihren Sinn des Lebens ergründen können und sie dann mit Yogamatte und Ananas einen Ort zum übernachten sucht, hätte auch überspitzter sein können. Allgemein ist mir aufgefallen, dass viele Szenen Potential hatten, das nicht ausgeschöpft wurde.

[09:42, 18.6.2017]
Klaudia Lagozinski: Bei der Szene mit Mutti hätte ich mir, wenn sie schon auf Kapitalismuskritik machen, gewünscht, dass Mutti beispielsweise jeden freien Quadratmeter auf Airbnb vermietet oder Ähnliches. Dass man die Realität überspitzt und nicht versucht, sie wie in Watte gehüllt darzustellen. Wobei ich sagen muss, dass der Jens mit seinem verschmitzten Lachen und Lockenkopf eine doch sehr sympathische Mutti abgab. Allgemein habe ich die Spieler aber als etwas kalt in ihrer Spielweise empfunden. Ich hätte mir mehr Emotionen gewünscht. Vielleicht wollen sie das auch so – als Kritik an der uniformen Masse von Möchtegern-Individuellen (Künstlern). Das würde auch erklären, warum die drei alle das gleiche weiße Shirt zur gleichen weißen Häkelhose tragen.  

[09:45, 18.6.2017]
Georg Kasch: Klar, es ging um Uniformierung, schließlich finden sich ja bei der Gentrifizierung nach und nach die Menschen einer Gruppe in einem Kiez zusammen. Dieses Unterkühlte, Distanzierte ist gerade so eine Hildesheim-Mode, die mir etwas auf den Keks geht. Auch ich hatte den Eindruck, dass das bei Jan Koslowski, der den Jens spielt, am Besten aufging, weil hinter seiner mild lächelnden Maske noch etwas pulsierte, das man nicht zuordnen konnte. Dem hat man auf der Bühne alles zugetraut.

[09:46, 18.6.2017]
Klaudia Lagozinski: Dann hoffen wir mal, dass diese "Modeerscheinung" nicht überhand nimmt.
       
Mutti muss nach Lichtenberg
© Volker Beushausen
[09:47, 18.6.2017]
Georg Kasch: Danach ging's gleich weiter mit "Beauty & the Beast". Was war das?    
      
[09:53, 18.6.2017]
Klaudia Lagozinski: "Beauty and the Beast" ist ein Mix aus Radioshow, Körperdarstellung, Tanz, Motivationsrede und patizipativer Performance. Mich hat begeistert, wie überzeugend Enis Turan war bei allem, was er gemacht hat. Ein schöner Kontrast zu "Mutti". Der Performer hier traut sich, laut zu werden, Emotionen zu zeigen. Alles was er macht, wirkt authentisch. Obwohl er auch mal schreit oder die Fäuste ballt. Die Figur war in sich einfach total schlüssig.  
             
[09:59, 18.6.2017]
Georg Kasch: Obwohl er ja auch Zumutungen im Gepäck hatte: Zuerst gab's bei Saalbeleuchtung den Song "Get Free" – mit dem Text zum Mitlesen. Dann in der Dunkelheit bestimmt zehn Minuten Radiotalkbeschallung auf Englisch. Das war schon eine Konzentrationsübung. Dann stand Enis Turan tatsächlich auf der Bühne und hat – nach seinem Gang ins Publikum, seinen Autogrammen im Blitzlichtgewitter – wieder nur geredet. Bis er tanzte, verging eine ganze Weile. Aber diese Bewegungen haben mich schon auch gekriegt, gerade weil sie viel von dem einlösten, was er vorher in seinem Reenactment der Lady-Gaga-Rede performt hat – dieses I am what I am, durch das sich noch etwas anderes zieht, dieses Taumeln und Schleudern, als versuchte eine unsichtbare Kraft, ihn aus der Bahn der Popchoreografien zu schleudern.    
            
[10:06, 18.6.2017]
Klaudia Lagozinski: Mich hat auch die Präzision seiner Bewegungen gepackt. Die Körperspannung. Dass man als Zuschauer oft dachte, er fällt gleich nach vorne oder hinten über, er aber jede einzelne Geste unter Kontrolle hatte. Klar war es anfangs anstrengend, im Dunkeln zu sitzen, aber zumindest ab der Radioshow war ich komplett bei ihm. Er hat es für mich geschafft, einen Moderator zu spielen, dem man gerne zuhört. Nur durch seine Stimme in kompletter Dunkelheit etwas Greifbares zu erschaffen. Ich habe mich für einen Moment tatsächlich so gefühlt, als würde ich gerade alleine in einem Auto sitzen und die Berieselung genießen. Schön auch, dass er die Performance ins Jetzt geholt hat, Performance und Realität verschwommen sind, als er vom PAF erzählt hat.                  
             
[10:10, 18.6.2017]
Georg Kasch: Ja, das mochte ich auch, dieses Im-Hier-und-Jetzt-Sein. Und dann war das einfach ein starkes Bild, als er seinen Mantel fallen ließ und in seinen High Heels nackt dastand, mit seinen langen Haaren, diesem sehr männlichen Tänzerkörper und dem weggebundenen Schwanz geschlechtlich uneindeutig blieb und sowohl etwas Stolzes als auch etwas Verletzliches ausstrahlte.                

[10:11, 18.6.2017]
Georg Kasch: Hattest Du das Gefühl, dass er dieses "Du kannst alles sein, was du willst" ernst gemeint hat? Oder war's ironisch? Oder beides?        
       
[10:18, 18.6.2017]
Klaudia Lagozinski: Und dann noch diese dramatische Musik, das Thema des Films "Inception"! Ich habe ihm eigentlich schon abgekauft, dass er das ernst meint. Eben wegen dieser konstanten Überzeugung bei allem, was er gemacht und gesagt hat. Auch die Botschaft am Ende war sehr erfrischend: Dass jeder tun kann, was er will, dass jeder auf die Bühne kann, wenn das gewünscht ist. Dass die Position von Zuschauer und Performer verschwimmt. Dass die Aufforderung "and now, dance" gereicht hat, damit ein Drittel des Publikums diesem Aufruf folgte – inklusive mir. Und ich muss sagen, die Energie der um mich tanzenden Zuschauer war schon stark.      
       
[10:24, 18.6.2017]
Georg Kasch: Weil aber nicht alle mitgemacht haben und dann einige die Chance genutzt haben zu gehen, franste für mich der Schluss aus. Die Idee mochte ich auch, die Umsetzung war ein bisschen holprig. Wie ich überhaupt denke, dass man da noch hier und da ein bisschen feilen könnte. Dennoch gehört "Beauty & the Beast" zu den stärkeren Eindrücken, die ich vom PAF mitnehme.                  

[10:31, 18.6.2017]
Klaudia Lagozinski: Klar. Erweiterbar und präzisierbar ist "Beauty and the Beast" allemal. Aber es war endlich mal eine Performance, die die Zuschauer abholt. Ich glaube auch, dass es stark daran liegt, dass Enis Turan alles was er macht, so überzeugt macht. Als er durch die Zuschauerreihen gelaufen ist und Autogramme verteilt hat, war das so glaubhaft, dass man wirklich das Gefühl hatte, dass dieser Mensch ein Superstar ist und nicht nur einen spielt. Er macht nicht die Performance vom Publikum abhängig, sondern das Publikum von der Performance. Weißt du, was ich meine?            
    
[10:34, 18.6.2017]
Georg Kasch: Absolut. Enis Turan ist ein toller Performer, den ich jetzt auf dem Schirm habe. Und ich bin gespannt darauf, was da noch kommt.