Sonntag, 18. Juni 2017

Den Spuk vertreiben

Beim PAF 2017 gibt es zehn Wanderwege, thematische Routen, an denen entlang man mehrere Produktionen sehen kann. Zum Beispiel den Weg “Antworten für die Gegenwart”. Dass die manchmal nicht im Theater, sondern auf der Straße liegen, erlebte Gesche Beyer.

Der Horatier
© Kamel Rohde
Geschichte und ihre Umwege ist das Thema, das mich laut Ankündigung auf meinem Wanderweg durchs Festivalprogramm begleiten soll. In verschiedenen Vorstellungen, vom Potsdamer Platz bis zum Prenzlauer Berg, kann man auf der „Heiner-Müller-Achse“ Antworten für die Gegenwart nachjagen. Erster geplanter Halt: Die Vorstellung ''You and Me and Us'' der freien Gruppe Sisyphos, der Flugelefant (SdF). Zusammen mit Kindern aus einer Notunterkunft wird das Publikum hier auf eine Reise zum mysteriösen Ort Glückshausen mitgenommen.

Leider ohne mich. Mit dem Fahrrad breche ich vom Gesundbrunnen aus auf – und stoße schon wenige Meter weiter auf eine Straßensperre. Die Straßen sind mit hupenden Autos verstopft, weiter hinten auf der Brunnenstraße sehe ich gelbe Fahnen wehen. Mit der Botschaft „Grenzen dicht“ und “Gegen Multikulti“ haben die Identitären zur Großdemo aufgerufen. Auch im Mauerpark geht’s nicht weiter. Wie kommt man nach Glückshausen, wenn die Straßen im eigenen Kiez schon mit Identitären vollgestopft sind? 

Vielleicht doch mit der U-Bahn? Aber wenn man sich schon in den Untergrund begeben muss, um nach Glückshausen zu gelangen, dann stimmt irgendetwas nicht. Dann ist die Welt aus den Fugen geraten. Also: Planänderung. Ich drehe den Spieß um und schließe mich der Gegendemo und an der Gedenkstätte Berliner Mauer einer Sitzblockade an. Jetzt kommen die Identitären wegen mir nicht weiter. Wenig später hat sich die Demo der Identitären aufgelöst, hängenden Hauptes müssen sie zurück nach Hause fahren. Wir sehen am Gesundbrunnen noch die Letzten in die Bahn steigen. „Haut ab, haut ab, haut ab!“, brüllen wir im Chor. Und: „Nationalismus raus aus den Köpfen!“

„Raus“, so erzählt Schauspieler Ayham Hisnawi, war auch das erste Wort, das er lernte, als er nach Deutschland kam. Hisnawi ist Teil des Ensembles AGENTUR FÜR ANERKENNUNG, das im Theater unterm Dach „Der Horatier“ spielt. Lange Holzstäbe knallen aneinander, im Aikido-artigen Zweikampf gewinnt Hisnawi als Horatier gegen den Curatier, in dessen Rolle Katharina Merschel geschlüpft ist. Rhythmisches Klatschen begleitet den Kampf. Dummerweise wird der Horatier auch noch zum Mörder seiner eigenen Schwester, weil diese den Feind betrauert. Ein Luftballon zerplatzt, rotes Konfetti rieselt heraus. Unmissverständliche Symbolik: Die Schwester ist tot.

Wie nun umgehen mit dem Helden und Mörder? Wie lassen sich Verdienst und Schuld nebeneinanderstellen, ohne dass sie sich gegenseitig aufheben? Die AGENTUR FÜR ANERKENNUNG erweitert Müllers Text um persönliche (Schuld-)Geschichten. „Für diese Produktion bin ich zweimal die Woche von Brüssel nach Berlin geflogen!“, so Merschel. Verdienst oder Schuld? Die anderen Ensemblemitglieder sind sich einig: Schuld, wegen des CO2-Ausstoßes. Zur Strafe wird Merschel mit Kreppband ein Arm an die Hüfte geklebt.

Auf dem Weg nach Europa ist Hisnawi, der im Schlauchboot am Motor saß und steuerte, so schnell gefahren, wie er konnte, obwohl die anderen Angst hatten. „Aber ich wollte einfach nur ankommen.“, erzählt er. Verdienst, entscheidet das Ensemble. Zur „Belohnung“ wird ihm ein Luftballon um den Arm gehängt.

Hisnawi erzählt seine Geschichten lebhaft, ernsthaft und dabei doch mit spielerischer Leichtigkeit, immer wieder stiehlt sich ein mal verschmitztes, mal melancholisches Lächeln auf seine Lippen. Die Erzählungen der restlichen Ensemblemitglieder jedoch wirken streckenweise etwas gestelzt, die Symbolik mit Kreppband und Luftballon mutet etwas Holzhammer-artiges an, zwischendrin muss ich an Kindergeburtstag denken.

Unvermittelt und zu zuckend blauem Licht fängt Ensemblemitglied Fabian Neupert zwischendrin zu rappen an, ruft zur Öffnung der Grenzen Europas auf. Aber diese Worte, die man den Identitären ins Gesicht schleudern müsste, wirken hier auf der Bühne abgedroschen, so staubig wie die steifen ausgestopften Kostüme, die als Requisiten dienen.

Dass Theater niemals unmittelbar politisch sein sollte, erzählt mir hinterher Heiner Müller selbst, oder besser gesagt: Die Mensch-Maschine, in die Müller von Interrobang verwandelt wurde. Sie ist fest davon überzeugt, dass man im Theater nichts erfahren sollte, was man eh schon weiß. Nichts ist so langweilig wie die Dinge, die man völlig versteht.

Während draußen im brechend vollen WAU bereits die fette Party steigt, sitze ich also bei fahlem, gespenstischen Licht im Niemandsland des HAU2-Foyers und lausche der Stimme Müllers, die sich aus weiter, verrauschter Ferne ihren Weg zu mir bahnt. Müller weiß Bescheid, auch heute noch. Nicht zuletzt weiß er etwas zu den Identitären zu sagen: „Aus Angst greift man zu Vereinfachungen, hält an kulturellen Identitäten fest“. 

Will ich noch mehr von ihm über Europa erfahren oder vielleicht doch lieber mal 'ne Zigarrenpause machen? Nach kurzem Zögern entscheide ich mich für letzteres. Anscheinend rauchen wir Davidoff Cigars und Müller gesteht, dass er vielleicht auch schon ein klein wenig zu viel getrunken hat. Aber, dass das Theater ein Reservat für Träume ist, daran hält er auch in diesem Zustand noch fest. Oder vielleicht gerade in diesem Zustand? „Welchem Traum willst du als nächstes mit mir nachjagen?“, fragt er. Vielleicht dem Traum von Amerika, als er sich in den Straßen New Yorks verirrte? Ich verirre mich lieber wieder in den nächtlichen Straßen Berlins, von denen der Spuk fürs erste vertrieben ist. Für einen Augenblick scheint es, sie könnten vielleicht doch noch nach Glückshausen führen. Morgen vielleicht.